Ob Schuhverkäufer demnächst Barfüßige verhaften?

Entdeckungen im Öffentlichen Raum

Der Vortrag für den 18. Wiener Architekturkongress hat mich wie immer bis Sekunden vor dem Auftritt beschäftigt. Ich bin zunächst mit dem Publikum durch europäische Städte gereist, um zu erklären was es mit der Enclosure of the Commons auf sich hat. Ein beliebtes Bild für die Enclosure ist ja nach wie vor der Zaun ums Ackerland. Dabei hat es in den letzten Jahrzehnten eine merkwürdige Verschiebung gegeben. Der Zaun ist gewandert. Von klaren Grenzen ins Territorium und vom Land in die Stadt! Ein brasilianischer Kollege hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass Zäune etwa auf den großen Monokulturen in ganz Lateinamerika völlig überflüssig geworden sind. Gensoja dominiert das Land so wie das Agrarbusiness dessen Produktion. Soweit das Auge reicht. Und das Agrarbusiness braucht sich nicht mehr gegen sich selbst abzugrenzen. Höchstens die Commoners selbst errichten noch einen Zaun, um ihr Stückchen Gemeindeland zu schützen. Oft vergebens. Man könnte auch sagen: Die Verhältnisse selbst sind der Zaun.

Der Zaun ist zudem in die Stadt gewandert. Und somit in meinen Vortrag auf dem Architektenkongress. Mein „Lieblingsbeispiel“ dafür ist Florenz, die „Anticommonsstadt“ par excellence. Dort gibt es … kaum noch etwas, das von der Öffentlichkeit frei genutzt werden könnte. Das berühmte Flair der italienischen Piazza ist der Durchkommerzialisierung gewichen. Wer sich in dieser Stadt einfach nur mal hinsetzen oder einen Schluck Wasser trinken möchte (ein öffentlicher Brunnen gehört anderswo zur mediterranen Lebensqualität), wird vergeblich suchen. Keine Bank, kein Nass, keine Rettung vor der toskanischen Mittagshitze. Die Alternative: 2,80 Euro für einen Platz in einem der Restaurants oder Cafés, die ihr Territorium ins Öffentliche, erweitert haben. Eingezäunt, versteht sich.

Aber es geht auch anders. Deswegen habe ich versucht zu zeigen, wie Commons in den Städten wieder Raum finden können. Also von P2P Urbanism berichtet, von Open Source Stadtplanung, von der Transition Town Bewegung und von einer Entdeckung, die ich kürzlich während eines Gangs durch die Ausstellung Platz da! gemacht habe. In dieser wunderbaren Ausstellung, wurden wir von einer „Commons Hörstation“ überrascht, die der Journalist Peter A. Krobath vorbereitet hatte. Ich war mit Brigitte Kratzwald dort. Kopfhörer auf, hinlümmeln, zuhören … unsere Ideen und die vieler anderer Kollegen, Freundinnen und commoners in der Ausstellung!  Ehrlich, das fühlte sich gut an. Die nächste Entdeckung folgte auf dem Fuss. Es war die pointierte Rede der Kuratorin Andrea Seidling, mit der Platz da! Anfang Oktober 2010 eröffnet wurde.

Es gibt in Wien gar keinen öffentlichen Raum!“, sagt Seidling, „Oder sagen wir es etwas weniger drastisch: Es gibt in Wien keinen Raum, der die Bezeichnung öffentlich verdient. […] Nicht die Öffentlichkeit bestimmt über den Öffentlichen Raum, sondern eine Stadtverwaltung, die wie ein Privatunternehmen agiert, oder die im Interesse mächtiger Privatunternehmen agiert. In Interviews sprechen Politiker gern von der Stadt als einem großen Unternehmen und von sich als Unternehmensführer, ohne dass diese Aussage noch irgendeinen Protest hervorruft …
Bettlerinnen und Obdachlose werden als geschäftsschädigend angesehen und sollen deswegen aus dem öffentlichen Raum verschwinden. Wo das hinführt? Demnächst wollen Gastwirte keine Übergewichtigen in der Nähe ihres Lokals haben, weil sie meinen, dass diese der potentiellen Kundschaft den Appetit verderben würden. Und die Schuhverkäufer lassen alle Barfüßigen verhaften.“

Die Geschichte sei exemplarisch“ so Seidling weiter:

„Die Politik gibt nun zwar immer mehr öffentliche Räume und Aufgaben an Private ab, aber sie zieht sich nicht zurück, sondern konzentriert sich zunehmend auf den Bereich Sicherheit. Überspitzt formuliert könnte man sagen: Die Politik überlässt die Gemeingüter der Privatwirtschaft und macht dann für diese den Bodyguard.

Was für eine Formulierung! Zu dieser Metapher fällt einem allerhand ein, nicht zuletzt die Auseinandersetzung um den Stuttgarter Bahnhof. Wobei dieses Beispiel nicht nur eine Verwaltung zeigt, die mit Polizei-Gewalt ein überdimensioniertes Projekt verteidigt, sondern auch eine Bevölkerung die bereit ist, die Stadt(entwicklung) zu ihrer Angelegenheit zu machen. Während meiner Reise in den Öffentlichen Raum bricht sich langsam eine recht banale Erkenntnis Bahn: Der Öffentliche Raum ist sozusagen die infrastrukturelle Grundlage für städtische Gemeingüter.

Aber aller guten Dinge sind drei. Die dritte Entdeckung ist die eines Kleinods im benachbarten Sachsen-Anhalt. Manche_r muss weit reisen, um das naheliegend Spannende zu sehen. Die Rede ist vom Lesezeichen im Magdeburger Stadteil Salbke,eine Kombination aus öffentlichem Bücherschrank, Veranstaltungsbühne und Lärmschutz”. Stefan Rettich von den Karo*Architekten hat das preisgekrönte Projekt vorgestellt (European Prize for Urban Public Space 2010). In Salbke wurde weit mehr geschaffen als eine Bibliothek in einer schrumpfenden Region (bis 2050 wird Sachsen-Anhalt 50% seiner Bevölkerung gegenüber 1990 verloren haben). Es entstand ein richtiges Commons, wie mir scheint. Zumindest könnte es eins werden.

Das Lesezeichen ist ein Stahl-Bauwerk mit frei zugänglichen Vitrinen, in denen Bücher stehen, die sich jeder nach Belieben nehmen kann. Die Bücher sollen von den Nutzern später zurückgebracht oder durch andere Bücher ersetzt werden. Auch Bookcrossing wird praktiziert. Die Idee war, „Interaktionsschleifen herzustellen“. Oder:

„Das Lesen ohne Leseausweis, ohne Ausleihgebühr und Bürokratie möglich zu machen“.(Rettich)

Einfach müssen Commons sein! Nach einem Jahr hatten die Bürger_innen des Ortes 10.000 Titel zusammen getragen, inzwischen gibt es gar ein ehrenamtlich betriebenes Lesecafé. Teil des Gebäudes ist eine überdachte Bühne auf der Westseite, während sich östlich eine stark befahrene Straße durch den Ort ächzt. Somit bietet das Lesezeichen zugleich Lärmschutz für die dahinter liegenden Wohnungen. Schlau ausgedacht. Hier standen bei der Planung wohl die Menschen im Mittelpunkt und natürlich gemeinsame Planungsprozesse. So wurde zunächst für zwei Tage aus Bierkästen ein temporäres mit Büchern bestücktes Bauwerk geschaffen. Die Sache wurde „anfassbar“.

Doch Preise hin, Bürgerengagement und Sparsamkeit her: die Politik hatte „kein Geld für Experimente“ (Rettich). Also haben die Bürger die Fassade letztlich selbst angekauft. Die Fassadenelemente, die nach einem Kaufhausabriss aus Hamm/Westfalen geholt wurden, geben dem Gebäude seine besondere Note.

„Warum“, fragt Rettich am Schluß das Publikum, „ist dieses Projekt nicht das Standardmodell?“

Ja, das frage ich mich auch immer: Warum sind die Commons nicht die Norm, sondern das, was wir uns mühsam erkämpfen müssen?

 

PS: Von Stefan Rettich höre ich  auch zum ersten Mal von den Wächterhäusern, eine Idee, die in Leipzig entstand und nun die Runde macht. Noch so eine Entdeckung, von der ich später berichte.

PPS: Warum das Lesezeichen ‚Lesezeichen‘ heißt, erfuhr ich hier.

„Seit 2005 gibt es das Salbker Lesezeichen, in dieser Zeit sind viele Tausend Bücher durch die Hände der fleissigen Sortierer gegangen. Bei den meist aus Privathand gespendeten Büchern bleiben oft die Lesezeichen drin. Diese wurden ab den ersten Tagen gesammelt. Das dies nicht nur klassische Lesezeichen waren, versteht sich von selbst. So gibt es Briefe, Essenmarken, Postkarten, Fotos und vieles mehr. Ab sofort kann man diese im Lesecafé des Salbker Lesezeichens zu den gewohnten Öffnungszeiten besichtigen:

Foto: Lesezeichen während der Eröffnung Innenseite, auf Wikipedia von Olaf Meister, Lizenz: CC: BY, SA

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