Buen Vivir: Gemeingüter für ein Gutes Leben

Klimaretter und taz bringen Beiträge von Gerhard Dilger zur Debatte um das Gute Leben und die Gemeingüter auf dem 10. Weltsozialforum in Porto Alegre. Das WSF ist als Regionalforum am Freitag mit 35. 000 Teilnehmern zu Ende gegangen.

Dilger konstatiert zu recht, dass die politisch-programmatische Botschaft insgesamt diffus blieb. Doch warum sollten ausgerechnet die sozialen Bewegungen schon mit Klarheit punkten können, während allerorten konzeptionelle Ratlosigkeit herrscht?

„Dabei wird seit dem Weltsozialforum 2009 in Belém mit dem „Guten Leben“ und dem Komplex „Gemeingüter“ in Umrissen ein mögliche Plattform sichtbar, auf der sich die unterschiedlichsten Diskurse zusammenführen ließen… Die Brücke zwischen der antikapitalistischen Linken und den Gemeingütern schlug Edgardo Lander: ‚Als globales System steht der Kapitalismus dem Erhalt des Lebens entgegen‘, sagte der venezolanische Soziologe, ‚wir müssen die Wachstumslogik radikal überwinden und zu einer Umverteilung des Zugangs zu Gemeingütern kommen.‘

Raus aus dem Fortschrittsdenken, dem „desarrollismo“! Das war Konsens der Teilnehmer_innen eines internationalen Strategieseminars, zu dem ich im Kontext des 10.  WSF (Regionalausgabe) eingeladen war, um über Gemeingüter zu sprechen. Doch sozial-bewegter Konsens hin oder her, die südamerikanischen Linksregierungen hielten nicht nur am herkömmlichen Fortschrittsdenken fest, sondern hätten es sogar vertieft:

„Lula hat die Gentechnik in der Landwirtschaft zugelassen, und unter Hugo Chávez ist die Wirtschaft Venezuelas abhängiger vom Erdöl als vor zehn Jahren.“, erinnert Lander.

(Ich habe mir in Porto Alegre den Spielfilm über den brasilianischen Präsidenten „Lula, der Sohn Brasiliens“ von Fabio Barretto angesehen. Seitdem glaube ich, dass dieser Fortschrittsglaube im Falle Lulas unüberwindbar ist. Biographische Prägungen sitzen tief. Lula kommt aus dem bitterarmen Nordosten des Landes. Der Zugang zu Arbeitsplätzen in der Industrie hat ihn zu dem gemacht, was er ist.)

Die Aktivistin Fatima Mello aus Brasilien bringt auf den Punkt, was nicht mehr geht und was gehen könnte:

„Es reicht nicht mehr, antineoliberal oder antiimperialistisch zu sein. Mit dem Kampf um die Gemeingüter hat letztes Jahr in Belém (dh. auf dem 9. Weltsozialforum – S.H.) ein neuer Zyklus für die Weltbürgerbewegung begonnen, der sich auch auf den Straßen Kopenhagens gezeigt hat.“

Ich muss mich mit dem Thema noch intensiver auseinandersetzen, aber bislang sehe ich drei Aspekte in der Beziehung zwischen den beiden Konzepten Buen Vivir und Gemeingüter :

1. Es gibt viele Gemeinsamkeiten – z.B. die Abwendung von klassischen Wirtschaftsindikatoren, die Redefinition der Rolle des Staates (der nicht etwa wiederbelebt werden soll, um die Wirtschaft anzukurbeln) die Verteidigung der Dinge die der Gemeinschaft gehören und eine Orientierung auf die Reproduktion des Lebens statt von Gütern. In beiden Debatten geht es  mithin darum,

„eine Alternative aufzuzeigen, die sich wesentlich von den neo-keynesianischen und neo-fordistischen Antworten unterscheidet, welche in den sozialen Bewegungen und in den linken Parteien die Oberhand haben. … indem die Fragestellung gewechselt wird: Es geht nicht darum, unseren Konsum generell und in abstrakter Art zu vermindern,  … sondern darum, gegen die Konsumideologie zu kämpfen, indem von der Lebensqualität ausgegangen wird und nicht von der Menge der verbrauchten Güter“ (Aguiton)

2. Eine Gesellschaft, die die Reproduktion der Gemeingüter in ihre Formen des Wirtschaftens einschreibt, ist eine Gesellschaft, die unterschiedliche Realisierungsformen des Guten Lebens zum Zweck hat. Sorum sehe ich das. Umgekehrt (aber auch in unauflösbarer Beziehung) sieht es Aguiton, der das Buen Vivir als „universelle Perspektive“ beschreibt, die

„auf der Verteidigung der gemeinsamen Güter beruht, also Güter, die die natürlichen Ressourcen, materielle Güter als auch die Kenntnisse und Traditionen einschließen, welche auf gegenseitigem Beistand und Solidarität beruhen.“

Diese Sichtweise entsteht m.E. dadurch, dass Aguiton die Gemeingüter als Ressourcen definiert (statt als Sozialbeziehung) und den Begriff nicht in Bezug auf eine alternative Produktionsweise denkt.

3. Das stark auf lokale (indigene) Gemeinschaften bezogene Konzept des Bien Vivir erfährt im Konzept der Gemeingüter seine notwendige Erweiterung und Verallgemeinerbarkeit. Denn die Gemeinschaften, von denen hier die Rede ist, sind  vielgestaltig – eben nicht nur lokal und indigen. Auf welche Gemeinschaft Bezug zu nehmen ist, hängt letztlich von der Ressource ab. Beim Klima (dh. bei globalen Gemeingütern) ist es eben die gesamte Weltgemeinschaft. Das ist ein Problem, welches das Konzept des Buen Vivir nicht aufzuarbeiten scheint.  Weswegen auch der Vorschlag eines dezentralisierten und multinationalen Staates

„in dem alle Gemeinschaften ihre Beziehungen untereinander auf gleicher Ebene gestalten.“ (Aguiton), nicht weit genug trägt, da der hier verwendete Gemeinschaftsbegriff nicht weit genug trägt.

Das sind erste Gedanken. Zu diesem Thema wird noch viel zu diskutieren sein. Möglichkeiten dazu gibt es genug: 2010 sind noch etwa 30 regionale und thematische Foren in aller Welt geplant, darunter Anfang Juli das Europäische Sozialforum in Istanbul.

Für LeserInnen, die des Portugiesischen mächtig sind: Die Zusammenfassung der Debatten über Bem Viver / Buen Vivir und über Gemeingüter. Das nächste Mal, werden die sicher nicht parallel laufen!

Foto on flickr, CC: BY  pardeshi

Die Klimaretter
http://wir-klimaretter.de/wahl-hintergr-mainmenu-442/72-protest/5115-porto-alegres-gruene-agenda?tmpl=component&print=1&layout=default&page= und die taz   http://www.taz.de/1/zukunft/wirtschaft/artikel/1/gutes-leben-heisst-selbstentfaltung/
bringen Beiträge von Gerhard Dilger zur Debatte um Gemeingüter auf dem
10. Weltsozialforum in Porto Alegre, welches am Freitag mit 35.000
Teilnehmern als Regionalforum zu Ende ging.

Dilger konstatiert zu recht, dass die Botschaft des WSF insgesamt diffus
blieb. Doch warum sollten ausgerechnet die sozialen Bewegungen mit
Klarheit punkten können, während allerorten konzeptionelle Ratlosigkeit
herrscht?

"Dabei wird seit dem Weltsozialforum 2009 in Belém mit dem "Guten Leben"
und dem Komplex "Gemeingüter" in Umrissen ein mögliche Plattform
sichtbar, auf der sich die unterschiedlichsten Diskurse zusammenführen
ließen... Die Brücke zwischen der antikapitalistischen Linken und den
Gemeingütern schlug Edgardo Lander: 'Als globales System steht der
Kapitalismus dem Erhalt des Lebens entgegen', sagte der venezolanische
Soziologe, 'wir müssen die Wachstumslogik radikal überwinden und zu
einer Umverteilung des Zugangs zu Gemeingütern kommen.'

Raus aus dem Fortschrittsdenken, dem "desarrollismo"! Das ist Konsens
der Teilnehmer_innen eines internationalen Strategieseminars, zu dem ich
im Kontext des WSF eingeladen war, um über Gemeingüter zu sprechen.
Doch, so Lander, die südamerikanischen Linksregierungen hielten nicht
nur am herkömmlichen Fortschrittsdenken fest, sondern hätten es sogar
vertieft: 'Lula hat die Gentechnik in der Landwirtschaft zugelassen, und
unter Hugo Chávez ist die Wirtschaft Venezuelas abhängiger vom Erdöl als
vor zehn Jahren.'

Die Aktivistin Fatima Mello aus Brasilien bringt es auf den Punkt:
"Es reicht nicht mehr, antineoliberal oder antiimperialistisch zu sein.
Mit dem Kampf um die Gemeingüter hat letztes Jahr in Belém (dh. auf dem
9. Weltsozialforum - S.H.) ein neuer Zyklus für die Weltbürgerbewegung
begonnen, der sich auch auf den Straßen Kopenhagens gezeigt hat."
2010 sind noch gut 30 regionale und thematische Foren in aller Welt
geplant, darunter Anfang Juli das Europäische Sozialforum in Istanbul.

9 Gedanken zu „Buen Vivir: Gemeingüter für ein Gutes Leben

  1. Vielen Dank für die Zusammenfassung, liebe Silke.

    „Eine Gesellschaft, die die Reproduktion der Gemeingüter in ihre Formen des Wirtschaftens einschreibt, ist eine Gesellschaft, die unterschiedliche Realisierungsformen des Guten Lebens zum Zweck hat“

    Dem stimme ich zu und möchte es gerne noch erweitern. Es sind m.E. nicht nur die Realisierungsformen, des guten Lebens, die anzuerkennen sind, sondern auch die unterschiedlichen Vorstellungen davon, was ein gutes Leben ist.
    M.E. geht es dem bisherigen Staat und der bisherigen Wirtschaft um die Verwirklichung dieser EINEN IDEE, z.B. wenn der Staat ein Wohlfahrtssystem schafft um seinen Bürgern ein gutes Leben zu ermöglichen. (Ein gutes Leben, aus wessen Sicht? Aus der Sicht der Wohlfahrtsorganisationen, aus der Sicht der Angestellten dieser Organisationen, des Staates, der Bürger?)
    Und auch der Wirtschaft geht um die Realisierung der EINEN IDEE von „gutes Leben“, wenn sie z.B. wächst um auch möglichst vielen Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen.

    Dabei wurde und wird leider oft vergessen, dass es unterschiedliche Vorstellungen von einem guten Leben gibt. Deren Realisierungsformen werden dann leider diskriminiert, wie das z.B. momentan mit sog. Alkoholikern oder Obdachlosen geschieht.

    Mein Eindruck bisher ist, dass die Commonsdebatten auch sehr stark an der Vorstellung anhaften, daß alle Menschen und Gemeinschaften im Prinzip die EINE IDEE oder doch sehr ähnliche Vorstellungen von einem guten Leben haben. Mir scheint es weiter, als ob die Suche der „Commons-Denker“ auf dieses globale und ewig-gültige Muster gerichtet ist, das allen Gemeinschaften ein gutes Leben ermöglicht.
    Bei Ostrom fällt mir das sehr auf. Mir ihrem westlichen, ökonomisch-akademischen Blick für das gute Leben, fährt sie durch die Weltgeschichte und sammelt und wertet Dokumente aus, die aus ihrer Sicht Beleg dafür sind, dass es den Einheimischen gelingt, gut zu leben. Dann stellt sie ein Bezugssystem und einen Bauplan (Verfassg. d. Allm S.235 und 237 ff.) auf, aus dem man ablesen kann, was man tun muß, um als Gemeinschaft ein gutes Leben zu haben. Das kann m.E. nicht gut gehen.
    Ein nächster Schritt in der Commons-Debatte sollte daher die Anerkennung nicht nur unterschiedlicher Realisierungsformen eines guten Lebens sein, sondern auch unterschiedlicher Vorstellungen davon, was ein gutes Leben ist.

  2. Hi Torsten,
    >Mein Eindruck bisher ist, dass die Commonsdebatten auch sehr stark an der Vorstellung anhaften, daß alle Menschen und Gemeinschaften im Prinzip die EINE IDEE oder doch sehr ähnliche Vorstellungen von einem guten Leben haben.Fuehlt sich das lebendig und gut an?JA< antworten lassen.
    Und solche Prinzipien beinhalten, dass auch den anderen Ihre Entfaltungsmoeglichkeiten gelassen werden, dass die Nutzung natuerlicher Ressourcen nachhaltig zu gestalten ist, dass wir nicht hinter die Menschenrechtserklaerungen der Moderne zurueck fallen usw. usf.
    In diesem Rahmen lassen sich dann die unterschiedlichsten Vorstellungen vom Guten Leben realisieren. Die der Alkoholiker gehoeren deswegen nicht dazu, weil sie einerseits durch den Missbrauch ihre eigenen Motivations- und Kooperationssysteme zerstoeren und mit dem was daraus folgt eben auch die Anderer.
    Alkoholismus ist ein Problem, dass wir mit einer Commonsdebatte sicher nicht geloest kriegen, aber vielleicht tragen wir zur Ursachenbekaempfung bei, indem wir fuer eine Welt arbeiten, in der es weniger Ausschluss, Druck, Stress und Abgrenzung geht und unsere Energien wieder dafuer eingesetzt werden, worauf wir neurobiologisch geeicht sind: Kooperation und gelingende Sozialbeziehungen. Zu diesem letzten Punkt will ich demnaechst mal was posten, weil ich gerade ein interessantes Buch eines Neurobiologen lese.

    Ansonsten

  3. „Und solche Prinzipien beinhalten, dass auch den anderen Ihre Entfaltungsmoeglichkeiten gelassen werden, dass die Nutzung natuerlicher Ressourcen nachhaltig zu gestalten ist, dass wir nicht hinter die Menschenrechtserklaerungen der Moderne zurueck fallen usw. usf.“

    Ich klinge bestimmt sehr pingelig, nervig und trollig, wenn ich schreibe, dass die Menschenrechtserklärungen der Moderne den Anderen oft nicht ihre Entfaltungsmöglichkeiten lassen, wie man an den Kopftuchdebatten glaube ich gut erkennen kann. Mit dem Pochen auf das Menschenrecht der Religionsfreiheit (wessen Religion übrigens?) wurden in Frankreich Schülerinnen vom Unterricht ausgeschlossen. Auch die Existenz unterschiedlicher Erklärungen der Menschenrechte (wie z.B. die UN-Erklärung, die Kairoer Erklärung, die Arabische Charta der Menschenrechte lässt mich zweifeln, dass die Idee von universell gültigen Menschenrechten eine besondere Vielfalt der Vorstellungen vom Guten Leben zulassen.

    „In diesem Rahmen lassen sich dann die unterschiedlichsten Vorstellungen vom Guten Leben realisieren. Die der Alkoholiker gehoeren deswegen nicht dazu, weil sie einerseits durch den Missbrauch ihre eigenen Motivations- und Kooperationssysteme zerstoeren und mit dem was daraus folgt eben auch die Anderer.“

    Ich stimme Dir in Deiner Analyse zu den Gründen zu, warum die Vorstellungen von Alkoholikern nicht zu den Vorstellungen eines guten Lebens gehören. Ich möchte sie gerne um eine Idee ergänzen: In einer Gesellschaft in der Motivation den hohen Sinngehalt hat, den sie in der unseren Gesellschaft hat, gelten alle die als krank, die ihre Motivationssysteme (was auch immer das für Systeme sind) zerstören. Solche Sinn-Vorstellungen wie die der Motivation, der Kooperation oder des was-auch-immer kommen jedoch nicht von irgendwoher und von alleine oder sind in der Natur des Menschen verankert.

    „Alkoholismus ist ein Problem, dass wir mit einer Commonsdebatte sicher nicht geloest kriegen“

    – Das ist nicht zwangsläufig nicht so. Es gibt interessante Arbeiten zum Stellenwert von situativem (partialem, unterdrücktem, nicht-wissenschaftlichem, indigenem) Wissen für die Commons. z.B. Is There Indigenous Knowledge in the Middle East? Towards a Reassesment of Knowledges in Management of Common Pool Resources von Knudsen oder A Feminist in the forest : Situated Knowledges and Mixing Methods in Natural Resource Management“ von Nightingale. Eine Essenz dieser Arbeiten ist: das Anhäufen von Wissen über Gemeingüter ist auch eine Machtfrage, ebenso wie der Ausschluss bestimmten Wissens aus der Commonsdebatte eine Machtfrage ist. Und für mich ist die Nichtanerkennung der Wissens von Alkoholikern über ein gutes Leben genauso eine Machtfrage, wie es die Nichtanerkennung des Wissens von sog. psychisch Kranken zum guten Leben lange Zeit war (und häufig immer noch ist).

    Warum also nicht auch „den Alkoholikern“ zugestehen, dass sie wissen wie sie gut leben können? Vielleicht müssen Alkoholismus und „ein gutes Leben“ sowie Alkoholismus und Commoning ja gar keine Gegensätze sein, sondern können sich gegenseitig befruchten? Wäre doch schön, wenn es Menschen gäbe, denen Alkoholismus, „Gutes Leben“ und Commoning gelingt, oder?

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