Ernährungskrise: Privatisierung der Nahrungskette

Zahlen kommen immer nackt daher. Und abstrakt. Der Präsident der Generalversammlung der UN, Srgjan Kerim, warnte anlässlich seines Deutschlandbesuchs eindringlich vor den globalen Auswirkungen der drastisch gestiegenen Lebensmittelpreise.

Das Leben von einer Milliarde armer Menschen weltweit wird durch die höheren Lebensmittelpreise betroffen sein – eine atemberaubende Zahl. … Bei 130 Millionen Menschen in Entwicklungsländern sind die Probleme existenziell. Hier geht es ums nackte Überleben“.

Eine Milliarde, knapp ein Siebtel (!) der Weltbevölkerung. Die Warnung vor der explosionsartigen Zunahme des Hungers in der Welt… benennt Dimensionen, die statt den Atem zu rauben fast betäuben.

Seit Jahrzehnten ist klar: Nahrung wird genug produziert. Aber die Menschen können es sich nicht leisten, sie zu kaufen. Gerade arme Bevölkerungsschichten geben bis zu 80 Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel aus. (Rechnen Sie das mal auf Ihre Einnahmen hoch.) Doch die Grundnahrungsmittelpreise kennen derzeit nur eine Richtung: Steil nach oben!

(Quelle: FAO) Gerade für Reis, Getreide und Mais sind sie zuletzt dramatisch gestiegen. Weizen legte zwischen März 2007 und März 2008 um mehr als 130% zu. (vía)

Aber der agrarpolitische Zug fährt seit Jahrzehnten immer in dieselbe Richtung. Und zwar in die falsche.

Heute sind zwei Drittel der Entwicklungsländer Netto-Importeure von Nahrungsmitteln. Die eigene Produktion durch Importe zu ersetzen war aus Sicht jener, die die Fahrtrichtung des Zuges seit Jahrzehnten kritisieren, schon immer ein Problem. Die Gründe für diese Kritik werden jetzt in aller Dramatik deutlich. Denn seit Anfang 2000 gibt es eine Trendwende der bis dahin stetig sinkenden Agrarpreise. Die Ausgaben für einst günstige Importe steigen rasant und belasten die finanziell schwachbrüstigen Volkswirtschaften.

Warum selbst produzieren, wenn man anderswo billiger einkaufen kann? Warum nicht „komparative Vorteile nutzen“? Schließlich kommt das in Form billiger Nahrungsmittel auch noch den Armen in den Städten zu Gute.

So die klassische Argumentation, die ich noch vor zwei Jahren von Experten der UN und sogar von Oxfam gehört habe. Für einen gewissen Ort und für eine gewisse Zeit mag das stimmen. Doch diese Zeit ist vorbei. Und die Orte, für die das gilt, werden immer weniger.

Die FAO liefert derweil (nackte) Daten am Fließband. Die Kosten für Getreideimporte der ärmsten Länder werden sich 2007/2008 um mehr als 56% erhöhen. Im „Food Outlook“ vom Mai 2008 sagt die UN-Organisation für Nahrung und Landwirtschaft, dass die Rechnung für Lebensmittelimporte der „Länder mit niedrigem Einkommen und Nahrungsmitteldefizit“ (Low Income Food Deficit Countries) im Jahr 2008 169 Milliarden US Dollar erreicht. 40% mehr als 2007.

Ursachen für den rasanten Anstieg gibt es viele: veränderte Nachfragestruktur durch veränderte Konsumgewohnheiten, steigender Gesamtkonsum, der fatale Agrotreibstoffboom, Spekulationen an den Finanzmärkten, wetterbedingte Ernteausfälle, sinkende Lagerbestände und steigende Energiekosten. (vgl. Christine Chemnitz zur Hausgemachten Ernährungskrise)

Am Ende klingt das immer ein bisschen so, als führe der Zug ohne Lokführer und Begleitpersonal. Als ginge es um eine Art unglückliche Verkettung von Umständen, dabei geht es um Jahrzehnte verfehlter Agrarpolitik! Weltweit, auf der ganzen Linie und mit tödlichen Folgen.

Das Recht auf Nahrung ist ein Menschenrecht, wie die Internationale Menschenrechtsorgansation FIAN (Food First International Action Network) unter Bezugnahme auf das Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte immer wieder betont. Hunger ist eine Menschenrechtsverletzung! An verdammt vielen Menschen. Doch eine Verschärfung der Ernährungskrise in den von der UNO angekündigten Ausmaßen holt (uns) schließlich alle ein. Auch wenn es hin und wieder einige Profiteure gibt. Die brasilianische Tageszeitung „Folha de São Paulo“ berichtete, dass die Sojapreise regelrecht explodierten. Sie zogen von rund 8 US-Dollar je Sack auf 28 US-Dollar an. In nur wenigen Monaten wurden Dutzende von Agrarinvestoren in Brasilien zu Multimillionären.

Der Hungeraufstand in Haiti, wo die Preise für Grundnahrungsmittel gegenüber 2007 um rund fünfzig Prozent stiegen, veranlasste derweil brasilianische Blauhelme dazu, den Präsidentenpalast in Port-au-Prince mit Gummigeschossen und Tränengas zu verteidigen. Die Regierung der verarmten Inselrepublik stürzte in Folge der Unruhen. Auch in Kamerun, der Elfenbeinküste und Burkina Faso gingen die Menschen auf die Barrikaden. (vía: Zuckerrohr statt Bohnen und Reis – insbes. für Brasilieninteressierte lesenswert) In Mexiko gab es schon Ende 2006 massive Proteste gegen die Explosion der Tortilla-Preise.

Ein Ende der Spirale ist nicht abzusehen. Klimawandel, Lebensmittel in den Tanks statt auf den Tellern, Monokultur statt Anbauvielfalt, Konzentration des Zugangs zu Land und Produktionsmitteln – das sind strukturelle Probleme, die die alarmierende Lebensmittelkrise -im Schlepptau des Biodiversitätsschwunds- mit verursacht haben.

Es gibt viele, die seit Jahrzehnten versuchen, den Zug zu stoppen. Insbesondere die Kleinbauernorganisationen in Süd und Nord. Netzwerke (Vía Campesina), Forschungs- und Lobbyorganisationen gehören dazu. Die ETC Gruppe, gegründet von dem Alternativen Nobelpreisträger Pat Mooney, lancierte am 22. Mai, dem Internationalen Tag der Biodiversität, einen Call to Action on World Food Emergency. Darin werden auch die Lokführer benannt.

Henry Saragih, Internationaler Koordinator von Via Campesina sagt (Zitat aus dem Aufruf):

This food crisis is the result of the ongoing market liberalisation and the neglect of food production by international institutions and national governments. … Peasant and family farmers need policies that protect and stabilize domestic markets and support food production for local and national markets.

Der Mechanismus, der dieser inkriminierten Politik zu Grunde lag und liegt, ist die der Einhegung und Privatisierung unserer natürlichen, sozialen und kulturellen Überlebensmittel. Der commons.

Am Anfang war die Einzäunung des Landes, was den Zugang zu fruchtbarem Ackerland für intensive, agroindustrielle Produktion ausweitete und für kleinbäuerliche und/oder extensive Landwirtschaft einschränkte. Dazu kam die systematische Vernutzung der natürlichen Ressourcen wie Wasser oder Bodenqualität (Pestizideinsatz/ Erosion). Externalisierung von Umweltkosten ist das fachsprachliche Label. Externalisierung der Umweltkosten heißt, die Rechnung für die Regeneration natürlicher Ressourcen nicht zu begleichen und an jene, die sich nicht wehren können bzw. an kommende Generationen weiterzugeben.

Dann kam die Privatisierung des Saatguts: durch so genannte „Geistige Eigentumsrechte“. IPR – Intellectual Property Rights. Die sollten besser IMR genannt werden: Intellectual Monopoly Rights. Diese werden über Patente durchgesetzt, die wiederrum die Bauern (und uns) eines weiteren commons berauben: dem der kulturellen Traditionen. Denn Saatgut zu patentieren und die Wiederaussaat nur bei erneuter Errichtung der Lizenzgebühren zu gestatten macht Schluss mit der jahrtausendealten Tradition, das Saatgut aufzubewahren, zu tauschen, den lokalen Anforderungen enstprechend weiterzuentwickeln und wieder auszusähen. Und es vernichtet Wissens um bestimmte Nutzpflanzen und deren Hege. Denn wo keine gelebte biologische Vielfalt, da keine vielfältige Kultur. Damit einher ging die Zerstörung lokaler Märkte. Solche Märkte, sind auch ein Commons. Ein Platz des Austauschs und der permanenten Reproduktion von Sozialbeziehungen und Bindungen zur kulturellen und natürlichen Vielfalt des jeweiligen Ortes.

Die Lebensmittelkrise lässt sich genau so beschreiben, wie die alternative Nobelpreisträgerin, indische Akademikerin und Aktivistin Vandana Shiv das tut: als „enclosure of the food-chain“; Einzäunung der Nahrungskette.

Was ist zu tun?
Die Industrieländer – und hier besonders die EU und die USA – sollten den Entwicklungsländern mehr Möglichkeiten eröffnen, die Weltmärkte zu erschließen, mahnt der eingangs zitierte Präsident der UN Generalversammlung. Mittel- bis langfristig müsse es darum gehen, die Lebensmittel-Märkte (er meint diese Märkte) zu stabilisieren und die weltweite Nahrungsmittel-Produktion anzukurbeln.

Das ist eine klassische end of the pipe solution. Man schaut, was am Ende der Röhre, also nach Produktion und Verteilung rauskommt. Wenn es häßlich ist und vielen weh tut -Hunger ist häßlich und tut weh- dann wird das Ergebnis ein bisschen korrigiert. Mit Nothilfe kann man aber die Ursachen des Hungers nicht bekämpfen.

Für jene, die auf die Ursachen schauen, ergeben sich indes komplett andere Ansätze. Der der Ernährungssouveränität zum Beispiel, ein Konzept das u.a. von Via Campesina vertreten wird.

2004 wurde von der Heinrich-Böll-Stiftung und Misereor ein internationales Dialogprogramm ins Leben gerufen, das zum Ziel hatte, ein politisches Gegenkonzept zu den aktuell dominierenden Agrarhandelsregeln zu entwerfen. Der EcoFair Trade Dialogue. Nur ca 10% der produzierten Lebensmittel überschreiten die Landesgrenzen. Doch diese 10 %, die über die Weltmeere schippern, führen jede Menge Balastwasser mit. Denn der Exportiereifer wirkt sich auch auf die Produktionform jener Nahrungsmittel aus, die im Inland vermarktet werden.

Das internationale AutorInnenteam des Abschlussberichts des Eco Fair Trade Dialoges schlägt eine Reihe konkreter Maßnahmen vor, wie die Zugfahrt verlangsamt und die Weichen neu gestellt werden können. In einer differenzierten Auseinandersetzung mit dem hoch kontrovers diskutierten Thema der Subventionen (keine Exportsubventionen – klar. Aber wie muss eine Politik der Stützung der heimischen Produktion konkret aussehen?), gehen die ExpertInnen davon aus, dass vor allem die nicht-ökologischen Dimensionen der Landwirtschaft gewürdigt werden müssen. Mithin ihr Beitrag zum Schutz der natürlichen, kulturellen und sozialen Allmende, die „positiven Externalitäten“.

Nationale Unterstützung ist gefragt, um die Multifunktionalität der Landwirtschaft im Hinblick auf Gesellschaft und Umwelt zu bewahren. Es geht dann vielmehr um die angemessene Höhe und Gestaltung der inländischen Unterstützung, und nicht um ihren Abbau. Außer in Ländern mit riesigen Anbauflächen und einem geringen Anteil traditioneller Landwirtschaft können kleine bäuerliche und Familienbetriebe nur überleben, wenn sie von der Politik unterstützt werden. Und so wie sie auf Unterstützung angewiesen sind, um soziale Gemeingüter zu bewahren, brauchen sie auch Hilfe für die Bereitstellung ökologischer Gemeingüter. Unter Wettbewerbsbedingungen müssen Bauern dafür entschädigt werden, dass sie – wie Ökonomen sagen – positive Externalitäten schaffen, wie etwa sauberes Wasser, Biodiversität und Landschaften im ländlichen Raum. Hier steht die so genannte Multifunktionalität der Landwirtschaft auf dem Spiel, d. h. die Landwirtschaft zu mehr als bloß einem Wirtschaftszweig machen. ( Schlussbericht S. 53; Viele konkrete Vorschläge, wie eine konzequente Gemeingüterverträgliche Agrarhandelspolitik aussehen kann, finden sie hier in Slow Trade Sound Farming.)

Auch der jüngste Weltagrarberichts der IAASTD (International Assessment of Agricultural Science and Technology for Development), an dem mehr als 400 Wissenschaftler weltweit mitgeschrieben haben, konstatiert die Notwendigkeit eines radikalen und grundlegenden Wandels in der Form der Lebensmittelproduktion. Dem Schutz natürlicher Ressourcen, der nachhaltigen Landnutzung, regionalen Vermarktungsstrukturen und traditionellem Wissen gebühre Priorität.

Die ETC Gruppe fordert unter anderem die Möglichkeit, dass einzelne Staaten den Notstand ausrufen und damit einseitig Freihandels- und andere internationale Abkommen aussetzen können. Diese Möglichkeit ist in die so genannten Schutzklauseln der Freihandelsverträge eingeschrieben. Staaten müssen sie nutzen, damit die Menschen die Kontrolle über die Ernährungssysteme wenigstens teilweise wieder übernehmen dürfen.

Der Appell warnt vor technologiegläubigen Schnellschüssen! „No more short-term technofix solutions“. Stattdessen braucht es langfristig neue Weichenstellungen und qualifizierteres Begleitpersonal für die Lokführer (insbesondere die EInbeziehung kleinbäuerlicher Produzenten).

Hier geht's zur Unterzeichnung des Aufrufs!

foto: Ausschnitt des Dubliner Denkmals mit verfremdetem Hintergrund zur Erinnerung an die An Gorta Mór, die als Folge mehrerer Kartoffelmissernten als Große irische Hungersnot in die Geschichte einging.
Flight from Famine by tezzer57 on flickr

2 Gedanken zu „Ernährungskrise: Privatisierung der Nahrungskette

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